Heinrich Seidel: Glockenspiel

I. BILDER UND IDYLLEN


AUS DER KINDHEIT

1. GLOCKENSPIEL

Die Glocken waren mir ein Heiligthum.
Sie hingen in dem alten Glockenstuhl
Von graubemoostem Holz. Ich pochte dran
geheimen Schauers voll mit spitzem Knöchel
Und horchte, wie ein schwingend leiser Ton
Um die metallne Rundung lief und wünschte,
Und wünschte brennend als das Höchste mir,
Dass einst im Lauf der Zeiten käm' ein Tag
Da ich sie läuten dürfte und auch könnte
Wie unser Küster, der ihr Meister war,
Doch glaubt' ich kaum, so Hohes zu erreichen.
Wie oft am Sonntag sah ich still ihm zu,

Wenn er zur Kirche beierte voll Kunst:
Mit hellem Doppelschlag die eine – dumpf
Dazwischen schlug die andre ihren Takt
Anschwellen liess er bald der Töne Fluth
Und bald ersterben wieder. meisterlich. –
Die Glockentöne schwammen hin in's Land
Und zogen wie an Fäden nun herbei
Auf schmalen Wegen her durch Korn und Wiesen
Die Menschen fern und nah im weiten Rund,
Gar hohe Wirkung, war's und edle Kunst,
So däuchte mir, und werth, danach zu streben,
Und ging zur Mutter, bettelt' mir zwei Glöckchen
Vom Schlittenputz – hing sie an Fäden auf
Und spielte „Läuten“ froh und stillvergnügt.

An eine andre Glocke hab' seitdem
Ich schüchtern mit dem Finger angepocht,
Und wünschte brennend als das Höchste mir,
Dass einst im Lauf der Zeiten käm' ein Tag,
Wo ich sie läuten dürfte und auch könnte, –
Doch sehr vermessen war wohl dieser Wunsch,
Denn gar gewaltig ist die mächt'ge Glocke
Und nur ein starker auserwählter Arm,
Ein gottgesegneter vermag die Kunst,
Dass rings mit Schauer der gewalt'ge Laut
Die Herzen füllt und mit Bewunderung.

Mir blieb, wie einst, mein kleines Glöckchen nur
Und stillvergnügt, wie einstmals, spiel ich „Läuten!“


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