Heinrich Seidel: Glockenspiel

I. BILDER UND IDYLLEN


SOMMERABEND - SOMMERNACHT

1. FEIERABEND

Feierabend! Feierabend!
Westwärts sank die Sommersonne.
Weisse Tauben fliegen leuchtend
Um die rothbestrahlten Giebel,
Und in süssen Abendfrieden
Spinnt sich ein die ganze Welt.
Satt und schwergefüllten Euters,
Milchduft um sich her verbreitend,
Wandeln kluge bunte Kühe
Durch des Dorfes enge Gassen,
Und am Bach die Gäns' und Enten
Putzen schwatzend ihr Gefieder,
Oder schnabbern sich zum Abschluss
Noch ein Würmlein oder Schnecklein
Aus dem vielgeliebten Schlamm.
Feierabend! Heimwärts ziehen
Schon die Knechte und die Mädchen
Mit Gelächter und Gesang.
Sieh, da kommt ein schlanker Bursche,
Und es wandeln ihm entgegen,
Wo am Bach das schmale Brücklein
Zu dem Wiesengrunde hinführt
Eine Blonde, eine Braune,
Apfelschön, zwei frische Mädchen,
Und er breitet seine Arme,
Und er ruft mit frohem Lachen:
»Brückenzoll müsst ihr entrichten!«
Und sie lächeln alle beide,
Eine keck, die andre schämig,
Und ich fürchte, alle beide
Werden wohl bezahlen müssen.
Doch es schmunzelt still die Alte
Und gedenkt der eignen Jugend,
Wo man auch von ihren Lippen
Solchen süssen Zoll begehrte. –
Ach, das ist schon lange her!


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