Heinrich Seidel: Neues Glockenspiel

I. VERMISCHTE GEDICHTE.


DIE TODESLILIE

Einst zu Corvay an der Weser
Ward im Kloster jedem Mönche
Kundig seine letzte Stunde,
Denn drei Tage vor dem Tode
Lag in seinem Kirchenchorstuhl
Eine silberweisse Lilie,
Und er schickte sich zum Sterben,
Ordnete die letzten Dinge,
Beichtete, nahm seinen Abschied
Von den mönchischen Genossen,
Und nach dreien Tagen tönte
Hoch vom Thurm das Sterbeglöcklein.
In dem Kloster einst zu Corvay
War ein Mönch, den trieb der Ehrgeiz
Zu verwerflich böser Unthat,
Und dem greisen Prior legte
Nächtlich er in seinen Chorstuhl
Eine silberweisse Lilie.
Mächtig drob erschrack der Alte,
Sank dahin auf's Krankenlager,
Und nach dreien Tagen tönte
Hoch vom Thurm das Sterbeglöcklein.
Prior ward an seiner Stelle
Nun der Mönch, doch fasst' ihn Reue.
Finster und verschlossen brütend
Lebt' er ruhlos seine Tage.
Ob er schlief und ob er wachte,
Immer schwebte ihm vor Augen
Jene weisse Todeslilie,
Und mit angstvoll scheuen Blicken
Mieden seine finstern Augen
Hinzuschaun auf jenen Chorstuhl.
Also schwanden seine Kräfte,
Und es bleichten seine Wangen,
Und aus ihren finstern Höhlen
Stierten seine Augen glanzlos.
Da, als wieder eines Tages
Er den Schritt zum Chore lenkte.
Sank er hin mit heiserm Aufschrei,
Denn es lag in seinem Chorstuhl
Nicht wie sonst die silberweisse,
Nein, es lag dort feuerglänzend
Eine blutigrothe Lilie.
Auf dem Krankenbett voll Reue
Beichtete er seine Unthat,
Und nach dreien Tagen tönte
Hoch, vom Thurm das Sterbeglöcklein

Nimmer sah nach diesen Zeiten
Man im Chore dieses Klosters
Jene weisse Todeslilie,
Und zu Corvay an der Weser
Starben ungewarnt die Mönche.

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