Rainer Maria Rilke
XVI
Nach einem Glück ist meine Seele lüstern,
nach einem kurzen, dummen Wunderwahn ...
Im Quellenquirlen und im Föhrenflüstern
da hör ichs nahn ...
Und wenn von Hügeln, die sich purpurn säumen,
in bleiche Bläue schwimmt der Silberkahn, –
dann unter schattenschweren Blütenbäumen
seh ich es nahn.
In weißem Kleid; so wie das Lieb, das tote,
am Sonntag mit mir ging durch Staub und Strauch,
am Herzen jene Blume nur, die rote,
trug es die auch? ...
XVII
Wir gingen unter herbstlich bunten Buchen,
vom Abschiedsweh die Augen Beide rot ...
„Mein Liebling, komm, wir wollen Blumen suchen.“
Ich sagte bang: „Die sind schon tot.“
Mein Wort war lauter Weinen. – In den Äthern
stand kindisch lächelnd schon ein blasser Stern.
Der matte Tag ging sterbend zu den Vätern,
und eine Dohle schrie von fern. –
XVIII
Im Frühling oder im Traume
bin ich dir begegnet, einst,
und jetzt gehn wir zusamm durch den Herbsttag,
und du drückst mir die Hand und weinst.
Weinst du ob der jagenden Wolken?
Ob der blutroten Blätter? Kaum.
Ich fühl es: du warst einmal glücklich
im Frühling oder im Traum ...
XIX
Sie hatte keinerlei Geschichte,
ereignislos ging Jahr um Jahr –
auf einmal kams mit lauter Lichte ...
die Liebe oder was das war.
Dann plötzlich sah sies bang zerrinnen,
da liegt ein Teich vor ihrem Haus ...
So wie ein Traum scheints zu beginnen,
und wie ein Schicksal geht es aus.
XX
Man merkte: der Herbst kam. Der Tag war schnell
erstorben im eigenen Blute.
Im Zwielicht nur glimmte die Blume noch grell
auf der Kleinen verbogenem Hute.
Mit ihrem zerschlissenen Handschuh strich
sie die Hand mir schmeichelnd und leise. –
Kein Mensch in der Gasse als sie und ich ...
Und sie bangte: Du reisest? „Ich reise.“
Da stand sie, das Köpfchen voll Abschiedsnot
in den Stoff meines Mantels vergrabend ...
Vom Hütchen nickte die Rose rot,
und es lächelte müde der Abend.
XXI
Manchmal da ist mir: Nach Gram und Müh
will mich das Schicksal noch segnen,
wenn mir in feiernder Sonntagsfrüh
lachende Mädchen begegnen ...
Lachen hör ich sie gerne.
Lange dann liegt mir das Lachen im Ohr,
nie kann ichs, wähn ich, vergessen ...
Wenn sich der Tag hinterm Hange verlor,
will ich mirs singen ... Indessen
singens schon oben die Sterne ...
XXII
Es ist lang, – es ist lang ...
wann – weiß ich gar nimmer zu sagen ...
eine Glocke klang, eine Lerche sang –
und ein Herz hat so selig geschlagen.
Der Himmel so blank überm Jungwaldhang,
der Flieder hat Blüten getragen, –
und im Sonntagskleide ein Mädchen, schlank,
das Auge voll staunender Fragen ...
Es ist lang, – es ist lang ...
Der Zyklus „Lieben“ mit 22 Gedichten erschien 1896
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