August Schnezler
Es sitzt ein Hirtenknab
Am Ufer dort und singt,
Daß in die Flut hinab
Die süße Stimme dringt.
Da steigt die schönste Fee
Im Liliengewand
Wohl aus dem finstern See
Zum Hirten an das Land.
Sie hat ihn bald berauscht
Mit süßem Minnespiel,
Und täglich ward getauscht
Der heißen Küsse viel.
Doch pünktlich jedesmal
Versank die holde Fee
Beim letzten Abendstrahl
Hinunter in den See,
Einst sprach das schöne Weib:
»Bleib' ich einmal zu Haus,
O Freund, so ruf' bei Leib'
Nicht meinen Namen aus,
Sonst muß ich sterben gleich.
Du siehst mich nimmermehr;
In unserm Wasserreich
Ist das Gesetz gar schwer!« –
Schon mancher Tag verfloß
Dem Hirten an dem See,
Doch aus der Wellen Schoß
Stieg immer keine Fee.
Einst in dem Abendglanz
Der Hirtenknabe saß,
Und des Verbotes ganz
In seinem Schmerz vergaß.
Er ruft voll Liebesglut
Den teuern Namen aus –
Da reget sich die Flut
Mit zischendem Gebraus,
Und aus der Tiefe gellt
Ein dumpfer Schmerzensschrei,
An das Gestade schwellt
Ein Strom von Blut herbei.
Es schwimmt zum Ufer da
Ein weißes Röslein her, –
Kein Aug' auf Erden sah
Den Hirtenknaben mehr.
Quelle:
August Schnezler „Gedichte“, 2. Auflage,
Creuzbauer und Kasper Verlag Karlsruhe, 1846
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