Aloys Wilhelm Schreiber
Hoch auf dem Tannenberge
Da ist ein schwarzer See,
Und auf dem See da schwimmet
Ein Röslein, weiß wie Schnee.
Es kommt ein Hirtenknabe
Mit einem Haselstab:
»Das Röslein muß ich haben,
Das Röslein brech' ich ab!«
Er zieht es mit dem Stabe
Wohl an den Binsenrand,
Doch aus dem Wasser hebet
Sich eine weiße Hand.
Sie zieht das Röslein nieder
Tief in den dunkeln Grund:
»Komm, lieber Knab', ich mache
Dir viel Geheimes kund!«
»Im See am Boden wurzelt
Das Röslein, das du liebst.
Da will ich dir es brechen,
Wenn du dich mir ergiebst.«
Den Knaben faßt ein Grauen,
Er eilt hinweg vom See,
Doch immer ist sein Sinnen
Das Röslein weiß wie Schnee,
Er irret durch die Berge;
Der Gram das Herz ihm frißt,
Und Niemand weiß zu sagen,
Wo er geblieben ist.
Quelle:
O.L.B. Wolff „Poetischer Hausschatz des deutschen Volkes“,
3. Auflage, Otto Wigand Verlag Leipzig, 1841
siehe auch
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