Max Herrmann-Neiße

Ballade vom Zauberwald

Schon lang' war er durch diesen Wald gegangen
und sehnte sich, daß er ein Ende nehme.
Der Abend kam, ihn faßte fast ein Bangen:
er denkt an Räuber und die schwarze Feme.

Was er als Knabe las, war da: Sphinxschreie,
die Bäume drängten enger sich zusammen,
bald blieb kein Durchschlupf mehr für ihn ins Freie,
rings um ihn stand der Fabelwald in Flammen.

Plötzlich lief es wie Klingen durch die Halme,
Musik schien eine List ihm zuzuflüstern,
und mitten in des Waldbrands schwarzem Qualme
war er auf neue Abenteuer lüstern.

Und wußte, daß ihn dieses nicht behalten
und strafen durfte, daß ihn Starkes schütze:
starr wandelt er, die Flammen rings erkalten,
dann trägt ihn eines Moores samtne Pfütze.

Wo alle sanken, die den Schritt verfehlten,
den einen schwierigen von Halt zu Halt:
nur er, als einer von den Auserwählten,
traumwandelnd glitt leicht aus dem Schreckenswald.

Er lächelt, denn das Buch ist ausgelesen,
es war sehr leicht, sich so hinauszuwagen:
beim letzten Wort war alles nicht, gewesen,
und vor ihm bleicht ein neuer Wald von Tagen.

Die waren zahm. Was sollte er sich bangen!
Kurzweil die Mär von Räubern und der Feme.
Und wieder kam er durch den Wald gegangen
und wünschte sehr, daß dies kein Ende nehme.

(1923)

Seitenanfang / top

Tweet


amazon  Waldgedichte -
Gedichtinterpretationen - Gedichtanalysen
audible-Hörbücher KOSTENLOS testen


Impressum - Datenschutz