Wilhelm Jensen
Es war in schwüler Julizeit; die Gassen
im Städtchen draußen lagen stumm verlassen,
und schläfrig klang vom Turm das Glockenspiel
ins Schulgemach, wo schmal, wie goldener Duft,
ein Sonnenstreif ans Wandgetäfel fiel.
Die Fliegen summten müde durch die Luft,
und müde lag es auf den Knabenlidern,
die auf des alten Römers Weisheit tief
herniedernickten, nur ein Flüstern lief
verstohlen rund, ein Blick, ein kurz Erwidern,
und alles still und selbst der Lehrer schlief.
Die Blicke aber aller streiften scheu
den Platz zur Rechten mir, der leer heut war:
dort saß mein Nachbar sonst; wir hielten treu
zusammen stets in Not und in Gefahr,
wie Kinderspiel und Ernst es mit sich bringen.
Wir hatten's nie gesagt und kaum gedacht,
daß unsere Herzen aneinander hingen,
daß unsere Augen nacheinander gingen,
und wer's gesagt, wir hätten drob gelacht.
Und langsam von der Wand herniedersank
der Sonnenstreifen auf die leere Bank,
es war der Zeiger der erharrten Stunde;
wir ließen Cäsar mitten in der Schlacht,
der Lehrer schloß, fast eh' wir's noch gedacht,
das Buch, und blickte flüchtig in die Runde
und sagte: »Heinrich Wolf ist heute nacht
gestorben; wer ihn etwa sehn noch will,
der muß es heut, die Eltern lassen's sagen.«
Er ging; sonst drängte wohl in wildem Jagen
jedweder nach der Tür; heut blieb es still;
der Klang der letzten Worte nur lief schrill
noch an der Wand entlang, und wie im Traum
verklangen leise auf dem Flur die Schritte;
ich selbst gedankenlos in ihrer Mitte –
tot war er – tot – was war's? Sie wußten's kaum,
doch lag es seltsam auf den Kinderwangen,
wie Neugier halb und halb wie heimlich Bangen.
Nur mir war's so, als ob der warme Strahl
des Sonnenlichts mit kaltem Flor verhangen,
und drinnen fühlt' ich's, daß zum erstenmal
ein Schauer durch die warme Welt gegangen.
Am Rand der stillen Gasse lag das Haus,
ein Garten dran, und in ein dicht Gewirr
von Blumen sah sein Fenster stumm hinaus.
Ringsum ein sonnenwogendes Geschwirr –
sie standen lautlos an des Sarges Rand,
nur weißer war als sonst sein Angesicht,
nur seine blauen Augen lachten nicht,
und nacheinander seine kalte Hand
erfaßten sie und legten hastig wieder
sie auf des Bettes weiße Linnen nieder.
Es war der Tod, der keinen wiedergibt,
sie sahn's und schauten doch ungläubig drauf;
nur mir schrie plötzlich es im Herzen auf,
als hätt' ich nichts sonst auf der Welt geliebt,
an diesen stummen Lippen nur gehangen –
als müßten sie nach mir zurückverlangen,
als müßte dieses Aug', eh es gebrochen,
nur einmal sprechen, was es nie gesprochen,
nur einmal hören, was es nie vernommen,
was über meine Lippen nie gekommen.
Und wie die toten Augen auf mich sah'n,
da mit der Jugend wundersamem Wahn
ergriff es mich, als wär' allein von allen
dem Tod ich mächtig in den Arm zu fallen,
als müßte eines Menschenherzens Sehnen
allmächtiger sein als Tod und Grabeshallen;
und mit der Liebe glaubensstarkem Wähnen
bog ich mich auf das kalte Angesicht
und schloß die Lippen auf den starren Mund.
Umsonst – die blauen Augen sah'n mich nicht,
und keine Antwort gab die Lippe kund. –
Und wie in jener sagenhaften Stunde,
da Gott verschied am Kreuz zu Golgatha,
fühlt' schaudernd ich in ihrem festen Grunde
die Erd' um mich erbeben, und ich sah
die Sonne stürzen, Nacht umzog die Welt,
ein Riß zerspaltete des Himmels Zelt,
auflodernd schlugen um mein Haupt die Flammen,
und an dem Totenbett brach ich zusammen.
Quelle:
„Vom Reichtum der deutschen Seele – Ein Hausbuch deutscher Lyrik“
hrsg. v. Georg Virnsberg, verlegt bei Dollheimer, Leipzig, 1928
Trauer- und Todesgedichte
-
Gedichtinterpretationen
-
Gedichtanalysen
audible-Hörbücher KOSTENLOS testen